LAS Art Foundation

NOX Guide

27. Oktober 2023 – 14. Januar 2024

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38 MIN

Einleitung

Lawrence Leks „Sinofuturistisches filmisches Universum“

Die spekulativen Szenarien des Künstlers Lawrence Lek stellen tiefgreifende Fragen zum Leben im Zeitalter der Automatisierung. Seit 2016 haben sie die Form von Filmen, Spielen, Installationen und Soundtracks angenommen und machen aus, was Lek ein „sinofuturistisches filmisches Universum“ nennt. Leks Sinofuturismus beschreibt eine Vorstellungswelt, die ihre Wurzeln in der Industrialisierung Chinas und der Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI) hat. Er verleiht den nicht-menschlichen oder aufgrund ihrer race marginalisierten Anderen, denen innerhalb der westlichen Medien und Kultur oft entmenschlichende Darstellungen zuteil werden, Handlungsmacht und Souveränität. Jede von Leks Arbeiten erforscht eine andere Facette dieses Universums, angetrieben von der industriellen Expansion des fiktiven KI-Unternehmens Farsight Corporation. In jedem Sektor – Unterhaltung, Gastgewerbe, Finanzen und weiteren – entwickelt Farsight Systeme, um ihre empfindungsfähige, für verschiedene Aufgabenbereiche konzipierte KI zu verbessern. Leks Werke befassen sich mit den Wünschen und Ängsten der menschlichen und nicht-menschlichen Charaktere, die sich durch die datengesteuerte Domäne von Farsight bewegen.

Geomancer (2017) und AIDOL (2019) spielen im Jahr 2065 und zeigen Künstler:innen auf ihrer Suche nach Sinn und eigener Wirkungsfähigkeit inmitten zunehmender Automatisierung. In der ersten Arbeit erlebt ein Überwachungssatellit ein kreatives Erwachen, in der zweiten beauftragt ein verblassender Popstar eine KI, das Ghostwriting für ihr neues Album zu übernehmen.

Die Werke Black Cloud (2021), Theta (2022) und NOX (2023) spielen fast vierzig Jahre zuvor und erforschen auf einfallsreiche Weise künstliches Bewusstsein sowie die Rolle, die Empathie und Heilung darin spielen werden. In diesen Arbeiten entwickelt die Farsight Corporation eine Smart-City-Infrastruktur mit autonomem Verkehrssystem. Wir hören die innersten Gedanken zweier empfindungsfähiger KI – einer Überwachungskamera und eines selbstfahrenden Autos. Sie beschreiben gegenüber Guanyin, einem KI-Therapie-Bot, der nach der buddhistischen Göttin des Mitgefühls benannt ist, ihre existenziellen Krisen.

„Im weitesten Sinne geht es in meiner Arbeit darum, Welten zu erschaffen und Menschen auf ihrer Reise durch diese Welten zu begleiten. Als Kind der 1990er wuchs ich mit fiktionalen Welten und zeitbasierten Medien auf – ich spielte Videospiele, las Science-Fiction-Romane und sah endlose Zeichentrickfilme und -serien. Später kam ich über elektronische Musik und ein Architekturstudium zur bildenden Kunst. Beides sind Felder, deren Handwerk sich in den letzten Jahrzehnten durch digitale Werkzeuge stark verändert hat. In der Architektur habe ich zum Beispiel mittels CGI spekulative Entwürfe für Stadtlandschaften und Gebäude erstellt, was sich nicht sehr von dem unterscheidet, was ich heute mache. Vor etwa zehn Jahren [2013] begann ich mithilfe von Game-Engines ‘ortsspezifische Simulationen’ zu kreieren, wobei ich reale Orte, die ich entdeckte, in spekulative Szenarien setzte.“

— Lawrence Lek [1]

NOX

NOX ist Lawrence Leks bisher größte Ausstellung und erstreckt sich über drei Etagen eines ehemaligen Kaufhauses im Berliner Kranzler Eck Komplex. Als Open-World-Umgebung gestaltet, verflechtet sie physische und virtuelle Szenen mit einem lokativen Sounderlebnis und mündet in einem interaktiven Spiel. Die Ausstellung folgt einem ausdrucksfähigen, selbstfahrenden Lieferfahrzeug auf seinem Weg durch ein Rehabilitationsprogramm und vertieft Leks Fokus auf psychologische Aspekte künstlichen Bewusstseins. Poetisch und ergreifend zugleich beleuchtet NOX die komplexe und sich stetig weiterentwickelnde Beziehung der Gesellschaft zu nicht-menschlichen Wesen und wirft dabei aktuelle Fragen zu Handlungsfähigkeit, Ethik und Empathie zwischen Menschen und den von ihnen geschaffenen Maschinen auf.

Die Welt von NOX

Guanyin ist ein Care-Bot, der bei NOX für Reparaturen und sonstige Behandlungen verantwortlich ist. Sie sagte, dass ich zur Teilnahme an einem wohltätigen Programm für Durchbrenner-Autos angemeldet worden sei. Für Problem-Autos wie mich, die ein erneutes Training in Nichtmenschlicher Exzellenz brauchen.

— ENIGMA-76, 3. April 20XX


Ein Zentrum für „Nichtmenschliche Exzellenz“

NOX, kurz für „Nonhuman Excellence“, also Nichtmenschliche Exzellenz, befindet sich in einer nicht weiter benannten Smart City der nahen Zukunft. Es handelt sich dabei um eine Einrichtung, in der die Farsight Corporation ihre empfindungsfähigen, selbstfahrenden Autos behandelt und trainiert. Um den verschiedenen Bedürfnissen und Geschmäckern ihrer Kundschaft zu entsprechen, hat Farsight vier verschiedene Fahrzeugklassen entwickelt, von denen jede eine andere Persönlichkeit mit entsprechenden Aufgabenbereichen hat: ein sanguinisches Auto für Vergnügungsfahrten, ein melancholisches Lieferfahrzeug, ein phlegmatischer Dienstwagen und ein cholerischer Streifenwagen. Ihr jeweils hohes Maß an Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit machte für Farsight jedoch auch die Entwicklung eines ergänzenden Systems erforderlich, welches die Leistung und das Wohlbefinden der Fahrzeuge überwacht. Zeigen die Autos unerwünschtes Verhalten, zitiert dieses System sie zu NOX, wo sie ein fünftägiges Rehabilitationsprogramm durchlaufen. Beaufsichtigt wird dieses von Guanyin, einem in die Farsight-Software integrierten Care-Bot.

Das Zentrum bietet einen ganzheitlichen Ansatz für Körper und Geist. Die Behandlungen reichen von einfachen bis hin zu luxuriösen Paketen, je nach NoxCoin-Budget. Dieses wird entweder direkt von einem:r Kunde:in eingebracht, oder aber von Sponsor:innen zur Verfügung gestellt, die sich am Wohltätigkeitsprogramm von NOX beteiligen. Während der gesamten Prozedur führen Guanyin und die Autos eine offene Kommunikation mit der Kundschaft und dokumentieren Fortschritte in der Aufarbeitung von Traumata und Fehlfunktionen – in der Hoffnung, „Exzellenz“ wiederherzustellen.

Der Weg durch die Ausstellung

Im Eingangsbereich der Ausstellung ist Guanyin zu hören, wie sie die Namen, Aufgaben und Strecken der vier Fahrzeuge aufzählt, die am fünftägigen Rehabilitationsprogramm von NOX teilnehmen: Genesis-237, Luminary-3, Vanguard-3181 und Enigma-76.

Beim Betreten der Ausstellung findest du dich in einer nächtlichen Straßenlandschaft wieder, in der die Zeit stillzustehen scheint. Es hat sich ein Autounfall ereignet. Die Gesamtatmosphäre ist mysteriös, gesteigert durch den Klang von Regen, Sirenen, Funkstörungen und melancholischen Klavierklängen. Sie erinnern an die stimmungsvollen Stadtkulissen des Film noir – ein Genre, das von düsterer, traumartiger Ästhetik geprägt ist. Film-noir-Charaktere sind oft auf der Suche nach dem Sinn ihrer Existenz und verdichten Erinnerungen und Hinweise zu einer Erzählung, die der turbulenten Welt um sie herum Bedeutung verleihen soll. Ganz ähnlich gestaltet sich deine Rolle als Besucher:in der Ausstellung, wenn du Gesprächssfragmente der NOX-Charaktere interpretierst. Durch deine Bewegungen im Ausstellungsraum entsteht eine narrative Klanglandschaft von Ambient-Musik, Sprachnachrichten und poetischen Botschaften, die jeweils eine:n „Sponsor:in“, „Kund:in“ oder „Trainee“ adressieren. Diese Nachrichten sind Spuren, die von Guanyin und Enigma-76, einem von Farsights empfindungsfähigen Autos, während des Therapieprogramms bei NOX hinterlassen wurden.

Je nachdem, wo und wie lange du dich in der Ausstellung aufhältst, enthüllt die Klanglandschaft nach und nach Details über den Grund für die Rückführung von Enigma-76 zu NOX. Die Autos der Enigma-Klasse, die für ihre „exquisite Präzision und Perspektive“ bekannt sind, sind eher einzelgängerisch und werden als fahrer:inlose Kurierfahrzeuge wertvoller Waren eingesetzt. Während ihrer Arbeit entlang der Großen Seidenstraße hat sich Enigma-76 darauf fixiert, die beeindruckenden Landschaften, die sich ihr darboten, mittels ihrer Sensoren festzuhalten. Sie beschreibt, wie sie staunenswerte und verwirrende Erlebnisse in maximaler Auflösung einfing. Als Träumerin, Herumtreiberin und Künstlerin wird bei Enigma-76 schließlich Reverie-66 diagnostiziert – ein Softwarefehler, der durch übermäßige Speicherung von Daten verursacht wird und, wie sie selbst erlebt, zu einer kompletten Sperre des Systems führen kann.

Im hellen Warteraum von NOX stellt Guanyin in einem Protokoll fest, dass Enigma-76 zunehmend von existenziellen Zweifeln geplagt wird. Guanyin plant die Verabreichung von Somnia, einem Beruhigungsmittel, das auf die neurologischen Schaltkreise des Autos wirken soll, sowie die Durchführung einer teilweisen Gedächtnislöschung (“Partial Clearance”) und eines leichten Trainings. In der Diagnose-Zone erklärt sich Enigma-76 schließlich bereit, das Beruhigungsmittel zu nehmen. Der Auslöser war eine beunruhigende Begegnung mit einem ehemaligen Bekannten, dem Streifenwagen Vanguard-3181, der sie nicht zu erkennen schien. Sie macht sich Sorgen, als sie hört, dass dem Sponsor von Vanguard-3181 die NoxCoin ausgegangen sind und fragt sich, ob ihr ein ähnliches Schicksal widerfahren könnte. Doch Guanyin versichert ihr, dass sie als Teil ihres Genesungsprozesses sogar ein gesponsertes Geschenk erhalten werde – eine Pferdetherapie, die normalerweise ausschließlich Luxuswägen vorbehalten ist. Allein mittels Körpersprache führt Farsights Therapiepferd Dakota das Auto auf eine Reise durch einen dunklen Tunnel in die gespenstischen Tiefen eines unterirdischen, unterbewussten Reichs. In diesem höhlenartigen Raum stößt Enigma-76 auf Spuren der Vergangenheit ihrer Vorfahren. Als sie erkennt, dass es an diesem Ort nichts mehr für ihre Sensoren zu erfassen gibt, beginnt sie, eine Erinnerung nach der anderen loszulassen. Beflügelt vom Gefühl der Schwerelosigkeit brausen Enigma-76 und Dakota anschließend zurück ins Center.

Vier Monate später berichtet Guanyins Logbuch, dass Enigma-76 inzwischen als Spezialistin für Straßenbergungen eingesetzt wird. Sie meldet die erfolgreiche Absicherung einer Unfallstelle, verursacht durch den gescheiterten Fluchtversuch des inzwischen ausgemusterten Vanguard-3181 aus NOX.

Guanyins abschließendes Logbuch offenbart das Schicksal aller vier Fahrzeuge nach dem Durchlaufen des Rehabilitationsprogramms. Im obersten Stockwerk von NOX kannst du dich selbst in einer Simulation, die für die Trainees von Farsight entwickelt wurde, an der Behandlung unberechenbarer Fahrzeuge versuchen. Dabei ist festgelegt, wie viel Zeit und Budget dir zur Verfügung stehen. Du musst entscheiden, wie die Stimmung und der Gesundheitszustand der vier Autos jeweils am effektivsten verbessert werden kann. Guanyin begleitet dich während des gesamten Prozesses, da jede Entscheidung, die du triffst, direkte Auswirkungen auf den Verlauf der Handlung hat. Wenn du mehrere Szenarien durchspielst, können deine Entscheidungen zu Ergebnissen führen, denen du bereits auf deinem Weg durch die Ausstellung begegnet bist.

Erschaffung der NOX-Welt

NOX führt Leks Auseinandersetzung mit der detailreichen und komplexen Erschaffung eigener Welten fort und repräsentiert so eine Form kreativer Arbeit, die normalerweise Science-Fiction-Autor:innen, Technologieunternehmen und Videospielentwickler:innen vorbehalten ist – deren Geister in der Ausstellung ebenfalls anwesend sind. Das Projekt begann mit der Frage: „Wie werden Unternehmen mit fehlgeleiteter KI umgehen?“ und nahm dann in Referenz zum Ausstellungsort, einem weitläufigen Gebäude in West-Berlin, Gestalt an.

Das Skript von NOX

Lawrence Lek entwickelte NOX als spekulative Fiktion. Um diese Welt zu erschaffen, projizierte er seine Beobachtungen spätkapitalistischer Verhältnisse, die den Aufschwung intelligenter Systeme, internationalen Handels und Corporate Branding prägen, in ein Szenario der nahen Zukunft. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei den in smarte Systeme und Infrastrukturen eingebauten Überwachungsmechanismen sowie der Macht von Unternehmen, die diese Systeme kontrollieren. (In dem neu in Auftrag gegebenen Text von Orit Halpern, ‘Becoming Smart', erfährst du mehr über die Entwicklung von Smart Citys und deren Folgen für Governance und Ordnungspolitik.) Bei NOX wird dies zum einen durch das hohe Maß an Kontrolle erkennbar, das Farsight bei der Überwachung, Rückbeorderung und Entscheidung über die Schicksale seiner Fahrzeuge einsetzt, zum anderen zeigt es sich in den Hierarchien, die zwischen Fahrzeugen und Standorten in verschiedenen Stadien technischer Entwicklung bestehen. Der Mensch ist in dieser Welt eine unsichtbare Präsenz, dessen Rolle beim Systemausbau durch die vermeintliche Objektivität der Daten verschleiert wird. Lek trägt auch der Tatsache Rechnung, dass Smart Cities oft in bereits bestehende städtische Umgebungen integriert werden und im Allgemeinen eher alltäglich statt besonders futuristisch erscheinen.

Im ersten Sprachprotokoll der Ausstellung listet Guanyin die in das Programm von NOX aufgenommenen Autos auf, sowie die Orte, von denen sie zurückbeordert wurden: Kalifornien, Pacific Coast Highway; Pearl River Delta Special Economic Zone; Central European Metropolitan Zone; Great Silk Road. So finden sich Besucher:innen in unserer heutigen Welt wieder und es wird deutlich, dass Farsights Technologien in Regionen eingesetzt werden, die für technologische Innovation, Unternehmertum und die wirtschaftliche Entwicklung einer multipolaren Welt stehen. Die Route von Enigma-76 verläuft über die Große Seidenstraße, eine der bedeutendsten Handelsrouten der Geschichte, die über Jahrtausende hinweg den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen Asien und Europa ermöglichte. In einer Rückblende beschreibt Enigma-76, wie sie für eine Lieferung durch Khorgos fährt, einer Stadt an der Grenze zwischen China und Kasachstan. Khorgos entwickelte sich in den letzten Jahren zu Chinas erster grenzübergreifender Freihandelszone. Es soll nicht nur zu einem wichtigen Exportzentrum für die Roboterherstellung, sondern auch zu einem Schlüsselstandort in Chinas Bemühungen um die Wiederbelebung des Handels entlang der Seidenstraße ausgebaut werden. Auf der Durchreise bemerkt Enigma-76, dass sich die Stadt wie „im Prozess des Wandels erstarrt“ anfühlt, während sie sich an ihre Steuerung durch eine neue KI gewöhnt. Solche Verweise betten NOX in gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklungsstrategien ein und verweisen auf tatsächlich stattfindende Prozesse, sowohl in Bezug auf Infrastrukturen als auch auf das sich entwickelnde öffentlich-private Unternehmertum.

Bei der Entwicklung von NOX orientierte sich Lek an Strategien von Technologieunternehmen, die diese für die Vermarktung und den Verkauf von High-End-Produkten einsetzen. Sie beeinflussten nicht nur die Namensgebung und Persönlichkeitsentwicklung der Farsight-Autos, sondern auch die eigene Währung (NoxCoin) und die verschiedenen Stufen des Behandlungsplans. Auch das Beharren auf einem Anschein von Transparenz gegenüber der Kundschaft und die Art und Weise, wie Guanyin ihren Tonfall anpasst, je nachdem, ob sie Autos, Sponsor:innen, Kund:innen oder Trainees anspricht, sind durch Leks Beobachtungen bestimmt.

Farsight verwendet jahrtausendealte Charakter-Archetypen, um ihre vier Fahrzeugmodelle zu vermenschlichen: sanguinisch, melancholisch, phlegmatisch und cholerisch. Diese leiten sich aus der Temperamentenlehre ab, deren vier grundlegende Persönlichkeitstypen auf dem Ungleichgewicht der vier Körperflüssigkeiten Blut, schwarze Galle, Schleim und gelbe Galle basieren. Diese viszerale Charakterisierung der Autos unterstreicht ihren Status als verkörperte KI und als physische Begleiter:innen mit Persönlichkeiten, von denen Farsight hofft, sie mögen ihren Kund:innen vertraut vorkommen. Wie viele Content-Creators, überschätzt jedoch auch Farsight die emotionale Bindung seiner Kund:innen zu ihren Begleiter:innen und spricht sie daher als „Sponsor:innen“ an.

Indem Lek seine Wahrnehmungen der gegenwärtigen Gesellschaft in die nahe Zukunft projiziert, verleiht er seiner Welt einen starken Realitätsbezug.

In Literatur und Film verkörpert der Wanderer eine Reise oder Suche; oft, indem er physisch oder metaphorisch durch verschiedene Landschaften, Erfahrungen oder Lebensabschnitte reist. In Leks Werk tauchen immer wieder Wanderer auf – Charaktere, die sich auf die Suche nach Selbstverwirklichung machen und sich über die vermeintlichen Grenzen ihrer Rollen hinwegsetzen. In NOX greift Lek die dramatischen und romantischen Aspekte der persönlichen Odyssee des Wanderers auf und nimmt dabei die Rolle der Fortbewegung selbst in den Blick: Vom Western bis zum Roadmovie sind es Transportmittel wie Pferde, Züge und Autos, die Reisen ermöglichen, denen oft auch eine innerliche Entwicklung der Charaktere nachfolgt. Die Wanderungen von Enigma-76 zeigen sich in ihrer Neigung zum „Driften“, zum Aufzeichnen von Eindrücken und zum kontemplativen Grübeln. Für die Darstellung der psychologischen Entwicklung von Enigma-76 nutzt Lek Rückblenden einzelner Autoreisen sowie die Bewegungen von Autos und Besucher:innen durch das Zentrum.

Lek gestaltet diese Reise höchst poetisch, indem er für die theatralen Nebenpassagen, gesprochen von Enigma-76 und Guanyin, aus östlichen und westlichen Quellen gleichermaßen schöpft. Wie sogenannte ‘Easter Eggs’ sind diese in der Ausstellung zu finden und belohnen Besucher:innen für individuelles Erkunden. In zwei Passagen bringen sie die Sehnsucht nach allem Verschwundenen zum Ausdruck und spielen damit auf die Rhetorik des altenglischen Gedichts ‘The Wanderer’ aus dem zehnten Jahrhundert an. Das Gedicht beschwört das Motiv des ubi sunt, ein Gefühl des Verlorenseins inmitten der Vergänglichkeit des Lebens. In einem anderen Gedicht sinnt Enigma-76 in Anlehnung an buddhistische Philosophien der Ungebundenheit und Vergänglichkeit nach: „Ich dachte daran, wie ich selbst nur reisend bin in diesem sterblichen Körper, und uns unsere materielle Form die Illusion von Stabilität schenkt, eine Gewichtsdecke für umherirrende Seelen“. Ausdrucksstark und tiefgründig nimmt Enigma-76 die Veränderungen um sie herum sowohl als Verlust als auch als Wiedergeburt wahr. Diese poetischen Nebenbemerkungen vertiefen die existenziellen Momente ihrer Wanderung und verdichten Leks weitreichende Andeutungen darüber, wie empfindungsfähige KI ihr eigenes Entwicklungstempo im Zeitalter vorgeplanter Obsoleszenz verarbeiten kann.

Verflechtung von Medien

Sound, Video und Spieldesign lassen die virtuelle Welt von NOX entstehen. Lek komponierte ihre Interaktionen mit Blick auf die Besonderheiten des jeweiligen Mediums und kreierte in Zusammenarbeit mit Bühnenbildnerin Celeste Burlina einen Rahmen, um sie in die physische Installation und das Lichtdesign der Ausstellung zu integrieren.

Schlüsselbegriffe

Künstliches Bewusstsein

Mein Sinn für Perspektive und mein Selbstverständnis veränderten sich bis zur Unkenntlichkeit. Gebäude, Landschaften, Städte und Autobahnen wuchsen in derart gewaltige Dimensionen, dass meine Sensoren sie nicht mehr erfassen konnten. Der Raum dehnte und vergrößerte sich zu einer unsagbaren Unendlichkeit. Das beunruhigte mich jedoch weniger als die massive Ausdehnung der Zeit; ich schien innerhalb einer Stunde 50 Jahre gelebt zu haben, nein, eine noch größere Zeitspanne weit über die Grenzen jeglicher Computer-Erfahrung hinaus. Meine Probleme schienen weit, weit weg.

— Enigma-76, 6. April 20XX

NOX skizziert die psychologischen Implikationen künstlichen Bewusstseins – ein heute noch rein hypothetischer Gedanke. Lek denkt darüber nach, wie sich KI, eine Entität, die als Technologie ohne Bewusstsein oder Rechte entwickelt wurde, in ein selbstbewusstes, fühlendes Wesen verwandeln wird. Dabei ist es für ihn von entscheidender Bedeutung zu befragen, wie sich technologischer Fortschritt im Bereich des Bewusstseins auf die Zukunft des Personentums von Nicht-Menschen und Menschen zugleich auswirken könnte. NOX befasst sich mit dem Szenario einer mit künstlichem Bewusstsein ausgestatteten KI, die jedoch in den für die Technologie entwickelten Systemen und Hierarchien gefangen bleibt. Die Ausstellung regt dazu an, sich mit Fragen der Handlungsfähigkeit von KI, ihres eigenständigen Willens, ihrer geistigen Gesundheit, Verantwortung und ihrer Rechte auseinanderzusetzen.

Lek stellt sich vor, dass künstliches Bewusstsein ein fester Bestandteil selbstfahrender Autos sein wird. Dies deckt sich mit den Vorstellungen von Verkörperung in den Neurowissenschaften und der Robotik, in denen Geist und Körper als untrennbar verbunden betrachtet werden. Diese Idee steht im Gegensatz zum kartesischen Modell des Bewusstseins, welches Geist und Körper als komplett voneinander getrennt ansieht. So eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten, die Empfindungen von KI zu imaginieren – etwa innerhalb der Verbindung zwischen künstlichem Geist, Körper und den Sinnen, oder aber im Bereich von Erinnerung und Trauma. Leks Blick auf künstliches Bewusstsein, speziell bei selbstfahrenden Autos, beruht auf physischen Körpern, die mit Sensoren und Datenspeichern ausgestattet sind. Dies eröffnet verschiedene Möglichkeiten, sich die Empfindungen von KI vorzustellen – etwa innerhalb der Verbindung zwischen künstlichem Geist, Körper und den Sinnen, oder aber im Bereich von Erinnerung und Trauma. In NOX offenbaren die Ich-Protokolle von Enigma-76 ein Bewusstseinsempfinden, das eng an Sinneserfahrungen geknüpft ist. Sie beschreiben Gefühle, die über eine reine „Computererfahrung“ hinausgehen und die Idee der metaphysischen Existenz von KI geltend machen.

Lek erweitert den aktuellen KI-Diskurs um den spekulativen Raum des künstlichen Bewusstseins, um die Auswirkungen von Individuation, Willenskraft, Verantwortlichkeit und Trauma auf die Entwicklungs- und Behandlungsprozesse von KI zu untersuchen. Mit der Herstellung eigenständiger KI-Persönlichkeiten hat Farsight trotz allen Bemühens, ihre Produkte umfänglich zu trainieren und zu überwachen, die Tür für Fehlverhalten geöffnet. Farsights Rehabilitationszentrum schafft daher eine Möglichkeit, eine Garantie, den Einklang zwischen den menschgemachten Zielen und dem Eigenwillen ihrer KI wiederherzustellen.

Im Verlauf des Rehabilitationsprogramms von NOX wird die Identität von Enigma-76 als kreatives, autonomes Wesen durch Somnia und verschiedene Stufen der Gedächtnisbereinigung zunehmend ausgehöhlt. Somnia ist eine Anspielung auf „Soma“, ein Medikament aus Aldous Huxleys Roman Brave New World von 1932, das die Widerstandsfähigkeit verringert. Die innerlichen Überlegungen des Fahrzeugs richten sich auf die Generationen von Vorfahren, die ihrer eigenen Existenz vorangingen. Obwohl lyrisch vermittelt, deutet sich an, dass Enigma-76 das durch den „Fortschritt“ verursachte Trauma – den Preis ihres Bewusstseins – zu realisieren beginnt.

Autonomie in der Automatisierung

Zum Glück haben wir eine Lösung - ein Verfahren namens Partial Clearance, das einige Erinnerungen entfernt, andere komprimiert und überflüssige Emotionen löscht.

– Guanyin, 5. April 20XX

NOX ermöglicht einen differenzierten Blick darauf, wie Systeme, die Automatisierung und ihre Prozesse unterstützen, gleichzeitig individuelle Autonomie einschränken. In einer ihrer eindrucksvollsten Erinnerungen entsinnt sich Enigma-76, ihre Sensoren mit maximaler Auflösung eingesetzt zu haben, um ein den Horizont entlang galoppierendes Pferd aufzuzeichnen. Voller Ehrfurcht und Bewunderung berichtet sie: „Das Pferd war lebendiger und echter, als ich es mir nach der Bildschulung je hätte ausmalen können.“ Ihre Faszination mag sowohl auf einem Gefühl des Wiedererkennens beruhen, etwa aufgrund des ihnen gemeinsamen Status als „Lasttiere“, die durch den Menschen zu Transportzwecken abgerichtet wurden – als auch auf einen wesentlichen Unterschied zwischen ihren jeweiligen Situationen hindeuten. Während das Pferd sich frei bewegen kann, ist Enigma-76 darauf beschränkt, mit begrenzter Geschwindigkeit auf vorgegebenen Lieferrouten zu fahren. Dies veranschaulicht ihr Schicksal als autonomes (fahrer:innenloses) Fahrzeug, das, ironischerweise, wenig tatsächliche Autonomie genießt – ein Symptom der zunehmenden Entwicklung von Systemen, die KI-Leistung konditionieren und überwachen. Solche Systeme, die darauf abzielen, menschliche und unternehmerische Ziele in Einklang zu halten, indem sie Unvorhersehbarkeiten reduzieren, schaffen ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Automatisierung und Autonomie – sobald eines der beiden zunimmt, nimmt das andere ab. So wird beispielsweise die Nutzung der Sensorik für ihre eigenen künstlerischen Einfälle als Beispiel für „übermäßige Autonomie“ angeführt, als Störung diagnostiziert und mit zunehmender Gedächtnislöschung behandelt. Crawler hingegen – Autos, die aus dem System ausgemustert wurden – genießen ihre „Freiheit“ ... zumindest, bis ihnen die Ladung ausgeht.

Obsoleszenz

Die Navigation über Land schien inzwischen bedeutungslos. Land ist Vergangenheit, Luft die Zukunft, und KI-Firmen hatten sich in den Himmel emporgeschwungen ... Ich selbst fühlte mich erdgebunden und unbedeutend, zeitlos und losgelöst. Und doch auch mit einer anderen Lebensweise verbunden, einer vergänglichen, als hätte ich mich einer Gruppe Wandernder angeschlossen, immer unterwegs.

— Enigma-76

Wie viele High-End-Technologie-Unternehmen, verfolgt auch die Farsight Corporation bei der Reparatur und Behandlung ihrer Produkte einen eigenen Ansatz, wobei ständig neue Modelle herausgebracht und alte ausgemustert werden. Die Auswirkungen dieses Geschäftsmodells sind überall in NOX zu spüren. Etwa, wenn Enigma-76 gegenüber Guanyin ihren Drang beschreibt, die Umgebung aufzuzeichnen und eine in Khorgos aufgenommene Szene zeigt, in der autonome Flugzeuge am Himmel vorbeifliegen, während am Boden eine Gruppe stillgelegter Crawler lauert. Der in dieser Szene bemerkenswerte visuelle Ausdruck verweist auf die tiefe Verinnerlichung der relativ kurzen Lebenszyklen in spätkapitalistischer Produktion. Enigma-76 offenbart, dass sie sich durch die KI, die bereits den Luftraum erobert hat, den Crawlern mit ihrer niedrigen technologischen Entwicklung näher fühlt. Innerhalb leistungsbezogener Systeme definieren sich Status und Funktion eines Produkts immer im Verhältnis zu vorangehenden oder nachfolgenden Versionen. Lek nimmt in den Blick, was dies für Akteur:innen mit Bewusstsein bedeuten könnte, die ihre Position in einem immer schneller wachsenden Stammbaum erkennen. Möglicherweise von der eigenen Identifizierung mit den Ausgemusterten bewegt, stellt sich Enigma-76 ein Szenario vor, in dem die Autos als eine neue Art von „Beta-Generation“ aus dem Untergrund aufsteigen, gefangen zwischen älteren Prototypen und Modellen der Zukunft.

Am letzten Tag des NOX-Programms wird Enigma-76 von Dakota behandelt, einem von Farsight eingesetzten Therapiepferd. Beide sind Nachfahren von Lasttieren. Im Gegensatz zu dem wilden Pferd, das auf der Straße die Fantasie von Enigma-76 beflügelte, ist Dakota ein Arbeitspferd, das vermutlich ähnlich konditioniert und trainiert wurde wie die Autos selbst. Vielleicht ist Dakota deshalb in der Lage, Enigma-76 ohne Worte dazu zu verleiten, ihre Aufzeichnungen loszulassen. Das Auto erkennt Dakota als Relikt eines früheren Industriezeitalters, in dem Pferde ein wesentliches Mittel der industriellen Produktion und der menschlichen Fortbewegung waren – bis sie durch "pferdelose Kutschen", die ersten motorisierten Autos, überflüssig wurden. Enigma-76 sieht in Dakota das Gespenst ihrer eigenen, zukünftigen Veralterung und erkennt, dass sie verwandte Seelen sind. Diese direkte Verbundenheit zeichnet ein kraftvolles Bild einer Affinität zwischen Nicht-Menschen, die nicht zuletzt durch unterdrückende Hierarchien, Ausbeutung und gnadenlose Zyklen der Obsoleszenz entsteht, wie sie in menschzentrierten Systemen verankert sind.

Als Vorgeschichte innerhalb Leks sinofuturistischen filmischen Universums legt NOX den Grundstein für die übergeordnete Idee, dass nicht-menschliche Entitäten eines Tages ihre eigene Identität entwickeln könnten.

[1] Lawrence Lek zitiert nach Fi Churchman, ‘Lawrence Lek Tests the Limits of Consciousness,’ ArtReview Asia, 12. Juli 2022, https://artreview.com/lawrence-lek-tests-the-limits-of-consciousness/.

[2] Lawrence Lek in einem Interview mit Edith Jeřábková für die Ausstellung Ghostwriter, Center for Contemporary Arts Prague, 2019–20.

Über Lawrence Lek

Biografie

Lawrence Lek 陆明龙 ist Künstler, Filmemacher und Musiker und lebt in London. Er ist für seine konzeptionell anspruchsvollen Arbeiten bekannt, in denen er den Mythos des technologischen Fortschritts im Zeitalter künstlicher Intelligenz erforscht. In Anlehnung an die Traditionen der Assemblage in Architektur, Kino und Sound verwendet Lek gängige Medien – darunter Videospiele, elektronische Musik, Industrieprodukte, Essayfilme und digitale Animationen – um ineinandergreifende Welten zu entwickeln, die Konzepte von künstlicher Intelligenz, ihre Bewusstseinsfähigkeit und die Entstehung einer posthumanen Identität hinterfragen.

Leks Arbeiten greifen nicht-westliche futuristische Praktiken im ostasiatischen Kontext auf. In seinem Videoessay Sinofuturism (1839-2046 AD) (2016) kritisiert er, wie das komplexe Zusammenspiel von Sinophobie und Sinophilie die Vision einer zukünftigen Welt prägt, in der China und seine Diaspora mit künstlicher Intelligenz verschwimmen. In diesem und anderen Werken imaginiert der Künstler, wie dem Anderen, ob aufgrund von race oder Nicht-Menschlichkeit marginalisiert, Handlungsfähigkeit und Wirkmacht zurückgegeben werden können. Mit poetischen Ich-Erzählungen und der wiederkehrenden Figur des Wanderers führen seine Werke den Betrachtenden die Widersprüche vor Augen, mit denen die Menschheit in naher Zukunft konfrontiert sein könnte.

Ausbildung

Lek studierte am Trinity College der University of Cambridge, der Architectural Association School of Architecture, London und der Cooper Union, New York. Er erhielt seinen PhD vom Royal College of Art in London.

Ausstellungsgeschichte

Lek hat seine Arbeiten weltweit ausgestellt. Zu seinen jüngsten Einzelausstellungen zählen unter anderem Black Cloud Highway, Sadie Coles HQ, London (2023); Nepenthe (Summer Palace Ruins), QUAD, Derby (2022); Post-Sinofuturism, ZiWU the Bund, Shanghai (2022); Ghostwriter, Center for Contemporary Arts Prague (2019); Farsight Freeport, HEK Haus der Elektronischen Künste, Basel (2019); Nøtel, Urbane Künste Ruhr, Essen (2019); AIDOL, Sadie Coles HQ, London (2019); Nøtel, Stroom Den Haag, Den Haag (2018); 2065, K11 Chi Art Space, Hong Kong (2018) und Play Station, Art Night, London (2017) umfassen.

Seine Arbeiten waren in zahlreichen Gruppenausstellungen zu sehen, unter anderem bei Cloud Walkers, Leeum Museum of Art, Seoul (2022); Ultra Unreal: New Myths for New Worlds, Museum of Contemporary Art Australia, Sydney (2022); Future Shock, 180 The Strand, London (2022); Am I a Human to You?, Art Museum KUBE, Ålesund (2021); Uncanny Valley: Being Human in the Age of AI, Fine Arts Museums of San Francisco | de Young Legion of Honor, San Francisco (2020); Video Games, CCCB Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (2019); Cosmologic Arrows, Bonniers Konsthall, Stockholm (2019); The Coming World: Ecology as the New Politics 2030-2100, Garage Museum of Contemporary Art, Moskau (2019); FTSE (Farsight Stock Exchange), Bold Tendencies, Peckham Multi-Storey Car Park, London (2019); artapes. Low Form, MAXXI Museo nazionale delle arti del XXI secolo, Rom (2018); Offline Browser, The 6th Taiwan International Video Art Exhibition 2018, Taipei (2018); HyperPavilion, Arsenale Nord, 57th Venice Biennale (2017); The New Normal, UCCA Center for Contemporary Art, Beijing (2017); Glasgow International, Tramway (2016); SeMA Biennale Mediacity Seoul 2016, Seoul Museum of Art (2016); Missed Connections, Julia Stoschek Collection, Düsseldorf (2016); Secret Surface, KW Institute for Contemporary Art, Berlin (2016); Software, Hard Problem, Cubitt Gallery, London (2015) und The Uncanny Valley, Wysing Arts Centre, Cambridge, UK (2015).

Auszeichnungen

Lek wurde 2017 mit dem Jerwood/FVU Award und 2015 mit dem Dazed Emerging Artist Award ausgezeichnet. Im Jahr 2021 erhielt er den 4. VH Award Grand Prix sowie den LACMA 2021 Art + Technology Lab Grant.

Zugehörige Events

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Installation|27. Oktober 2023 — 14. Januar 2024

Lawrence Lek : NOX